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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 29.01.2004
Aktenzeichen: 3 Ws 111/04
Rechtsgebiete: StPO, GG


Vorschriften:

StPO § 454 Abs. 1 S. 3
StPO § 454 Abs. 1 S. 3
GG Art. 2 Abs. 1
GG Art. 20 Abs. 3
1. Die Strafvollstreckungskammer ist aus dem Grundsatz des rechtstaatlichen und fairen Verfahrens gehalten, auch außerhalb der Fälle notwendiger Verteidigung über Anträge auf Verlegung eines anberaumten Termins zur Anhörung gem. § 454 I 3 StPO wegen Verhinderung des Wahlverteidigers nach pflichtgemäßen Ermessen unter Berücksichtigung der eigenen Terminsplanung, der Gesamtbelastung des Spruchkörpers, des Gebotes der Verfahrensbeschleunigung aber auch und gerade mit Rücksicht auf das Interesse des Verurteilten auf eine effektive Verteidigung durch einen Rechtsanwalt seines Vertrauens zu entscheiden.

2. Ist dem Verurteilten die Durchführung der mündlichen Anhörung wegen der Bedeutung der Sache oder auf Grund ihrer tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeit ohne seinen Verteidiger nicht zumutbar, wurde das Verlegungsgesuch rechtzeitig gestellt sowie auf gewichtige Gründe gestützt und sind gegenläufige öffentliche Interessen an der Effizienz des Verfahrens nicht erkennbar, stellt sich die Ablehnung der vom Verteidiger wegen anderweitiger Terminsverpflichtung beantragten Terminsverlegung als ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens dar. (GG 2 I; GG 20 III; StPO 454 I 3)


3 Ws 111/04 3 Ws 112/04

OBERLANDESGERICHT FRANKFURT AM MAIN BESCHLUSS

In derStrafvollstreckungssache

...

wegen gemeinschaftlicher schwerer, räuberischer Erpressung

hier: Reststrafenaussetzung,

hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kassel vom 7. November 2003 am 29. Januar 2003 beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.

Gründe:

Mit dem angefochtenen Beschluss hat die Kammer es abgelehnt, die Vollstreckung der restlichen Freiheitsstrafen zur Bewährung auszusetzen. Hiergegen richtet sich die statthafte (§ 453 II 1 StPO) sowie form- und fristgerecht eingelegte (§ 311 II StPO) sofortige Beschwerde des Verurteilten. Das Rechtsmittel hat aus verfahrensrechtlichen Gründen zumindest vorläufig Erfolg.

Die Kammer hat bei ihrer Entscheidung den Anspruch des Verurteilten auf eine faire Verfahrensgestaltung (Art. 2 I i.V. mit Art. 20 III GG - Rechtsstaatsprinzip) verletzt.

Dieser schwerwiegende, vom Beschwerdegericht nicht behebbare Verfahrensmangel (vgl. zum vergleichbaren Fall der gänzlichen Unterlassung der nach § 454 I 3 StPO zwingend vorgeschriebenen mündlichen Anhörung Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 309 Rn 8 mzwN) nötigt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an die Strafvollstreckungskammer (vgl. hierzu Senat, NStZ-RR 2001, 348; Beschl. v. 29. 9. 1995 - 3 Ws 645/95).

Nach der Rechtsprechung des BVerfG (NJW 1993, 2303ff = NStZ 1993, 355 ff.; StV 1994, 552f.), welcher der Senat folgt (NStZ-RR 2001, 348; zuletzt Beschl. v. 12.8.2003 ­ 3 Ws 843-844/03), verlangt die einem fairen Verfahren immanente Forderung nach verfahrensmäßiger Selbstständigkeit, dem beteiligten Strafgefangenen das Recht zuzubilligen, zur Wahrnehmung der ihm eingeräumten prozessualen Rechte zur mündlichen Anhörung im Entlassungsverfahren nach § 454 I StPO einen Verteidiger seines Vertrauens hinzuzuziehen. Angesichts der Bedeutung einer Anhörung gem. § 454 I 3 StPO für ein bedingtes faktisches Ende des Freiheitsentzugs kann für einen Strafgefangenen in Bezug auf das Anwesenheitsrecht seines Verteidigers ­ auch wenn dies kein förmliches i.S. von § 168 c StPO ist - nämlich nichts anderes gelten als für Angeklagte, Zeugen und nebenklageberechtigte Verletzte.

Das Recht auf ein faires Verfahren gewährleistet allerdings einen allgemeinen Anspruch auf Anwesenheit eines Rechtsbeistandes nicht schlechthin, sondern lediglich in den Grenzen einer am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierten Abwägung zwischen den Verfahrensrechten des Strafgefangenen und dem öffentlichen Interesse an der Effizienz des Verfahrens (BVerfG aaO). So gehört es grundsätzlich nicht zu den Aufgaben des Gerichts, den Verteidiger zu dem Anhörungstermin zu laden oder ihn auch nur formlos zu unterrichten. Es darf indes nicht ohne rechtfertigenden Grund das Verfahren derart gestalten, dass es die Möglichkeit des Verteidigers auf Inhalt, Gang und Ergebnis der mündlichen Anhörung und damit auch auf den Ausgang des Aussetzungsverfahrens selbst Einfluss zu nehmen, gänzlich vereitelt (vgl. Senat, NStZ-RR 2001, 348). Ansonsten ist nämlich der Anspruch auf eine faire Verfahrensgestaltung für den Verurteilten nicht zu realisieren, sondern läuft praktisch ins Leere (vgl. hierzu BVerfG aaO; Bringewat, NStZ 1996, 17, 18).

Bei einer kurzfristigen Anberaumung des Termins, die dem Verurteilten eine Unterrichtung seines Verteidigers nicht mehr erlaubt, muss das Gericht deshalb den Verteidiger selbst benachrichtigen (vgl. BVerfG und Senat aaO). Ob ein solcher Fall vorliegend gegeben ist, erscheint zweifelhaft, kann aber offen bleiben. Das aus dem Grundsatz des Anspruchs auf ein faires Verfahren ableitbare Recht des Verurteilten auf wirksame Verteidigung und prozessuale Fürsorge geboten vorliegend nämlich jedenfalls eine Verlegung des Anhörungstermins.

Da ­ wie oben dargestellt - für den Verurteilten bzgl. seines Rechts sich im Anhörungstermin des Beistands eines Verteidigers bedienen zu dürfen, nichts anderes gelten kann wie für den Angeklagten bzgl. seines Beistandsrechtes in der Hauptverhandlung, bietet sich an, für die Frage, ob der Verurteilte durch die Ablehnung des Antrags auf Verlegung des Anhörungstermin in seinem Recht auf anwaltlichen Beistand verletzt worden ist, auf die Grundsätze zu rekurrieren, die seitens der Rechtsprechung für den Anspruch des Angeklagten auf Verlegung des Hauptverhandlungstermins wegen Verhinderung seines Verteidiger entwickelt wurden. Denn auch dieser Anspruch wird unmittelbar aus dem Prozessgrundrecht des "fair trial" hergeleitet (vgl. Senat, StV 1998, 13; OLG Zweibrücken, NZV 1996, 152, 153; BayObLG, StV 1995, 10), aus einer am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierten Einzelfallabwägung entwickelt (vgl. Senat aaO) und orientiert sich letztlich daran, dass dem Verurteilten nicht ohne zureichenden Grund die Möglichkeit genommen werden darf, gerade über einen Verteidiger auf das Verfahrensergebnis Einfluss zu nehmen.

Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Senats, dass das Gericht trotz der Regelung des § 228 II StPO aus dem Grundsatz des rechtstaatlichen und fairen Verfahrens gehalten ist, auch außerhalb der Fälle notwendiger Verteidigung über Anträge auf Verlegung eines anberaumten Termins nach pflichtgemäßen Ermessen unter Berücksichtigung der eigenen Terminsplanung, der Gesamtbelastung des Spruchkörpers, des Gebotes der Verfahrensbeschleunigung aber auch und gerade mit Rücksicht auf das Interesse des Angeklagten auf eine effektive Verteidigung durch einen Rechtsanwalt seines Vertrauens zu entscheiden (vgl. Senat, StV 2001, 157. 1998, 13 jew. mzRsprN vgl. auch BGH, GA 1981, 37, 38 und OLG Zweibrücken, NStZ 1996, 162, 163). Ist dem Angeklagten die Durchführung der Hauptverhandlung wegen der Bedeutung der Sache oder auf Grund ihrer tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeit ohne seinen Verteidiger nicht zumutbar, stellt sich die Ablehnung der vom Verteidiger wegen anderweitiger Terminsverpflichtung beantragten Terminsverlegung als ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens dar (Senat, StV 1998, 13). Einem letztgenanntem Fall vergleichbare Konstellation ist vorliegend gegeben.

Die Kammer hatte mit Verfügung vom 10.10.2003, ausgeführt am 13.10.2003, Termin auf den 23.10.2003 bestimmt. Der Verteidiger hatte rechtzeitig schriftsätzlich mitgeteilt, dass er den vorgesehenen Termin wegen Kollision mit einem bereits zuvor in einer anderweitigen Rechtssache anberaumten, nicht zu verlegenden Gerichtstermin nicht wahrnehmen könne und um Verlegung gebeten. Die Kammer hat diesen Antrag mit Verfügung vom 22.10.2003 ausschließlich mit der Begründung abgelehnt, dem Verteidiger stünde kein Recht zur Teilnahme dahingehend zu, dass der Anhörungstermin mit ihm abgestimmt werden müsse und er habe Gelegenheit, schriftlich zu den eingeholten Stellungnahmen der Anstalt und der Staatsanwaltschaft sowie zum Ergebnis der Anhörung Stellung zu nehmen. Diese Entscheidung wird den genannten Grundsätzen nicht gerecht.

Es ist bereits nicht erkennbar, dass sich die Kammer bewusst war, dass sie eine Ermessensentscheidung unter Abwägung der gegenläufigen Interessen unter Einschluss desjenigen des Verurteilten auf Beistand durch den Anwalt seines Vertrauens zu treffen hatte. Der Hinweis auf das angeblich fehlende Teilnahmerecht des Verteidigers widerspricht dem eher. Jedenfalls ist nicht erkennbar, dass ein kurzfristiger Ausweichtermin nicht zur Verfügung gestanden oder eine Terminsverlegung der Belastung der Kammer bzw. ihrer Terminplanung widersprochen oder aber zu einer wesentlichen Verfahrensverzögerung geführt hätte, zumal angesichts der Vorentscheidungen (StVK Marburg und Senat) nur ein eng umgegrenzter Verfahrensgegenstand der Erörterung bedurfte. Auf der anderen Seite handelte es sich bei dem Terminsverlegungsantrag um das erstmalige, rechtzeitig gestellte und i.S. der genannten Rechtsprechung des Senats auch auf einen gewichtigen Grund gestützte Begehren des Verurteilten. Für ihn war die Aussetzungssache ferner von ganz erheblicher Bedeutung, was sich schon daraus erhellt, dass es um seine bedingte Entlassung nach über zehnjährigem Freiheitsentzug und einen noch erheblichen Strafrest ging. Bei gebotener Abwägung hätte deshalb dem Interesse des Angeklagten der Vorrang gebührt. Es stellt daher eine von Verfassungs wegen nicht hinnehmbare Verkürzung der prozessualen Rechte des Verurteilten dar, dass er von der Kammer darauf verwiesen wurde, sein Verteidiger könne lediglich schriftsätzlich zum Ergebnis der mündlichen Anhörung unter Einschluss der Stellungnahmen von Vollzugsanstalt und Staatsanwaltschaft Stellung nehmen (vgl. hierzu BVerfG, NStZ 1993, 355, 356).

Abschließend weist der Senat mit Blick darauf, dass die bisher offenen Strafverfahren als Grund für die Lockerungsversagung und der Ablehnung, den Verurteilten in den offenen Vollzug zu überweisen, größtenteils weggefallen sind, bzw. nach erfolgtem erstinzlichen Freispruch des Verurteilten jedenfalls kein dringender Tatverdacht mehr besteht, und der Senat in seiner Entscheidung vom 3.1.2003 mit Rücksicht auf das ­ von der Strafvollstreckungskammer Marburg zutreffend interpretierte und gewichtete - Ergebnis des eingeholten Sachverständigengutachtens die neuerliche Erprobung des Verurteilten im offenen Vollzug für erforderlich gehalten hat, bevor das Risiko einer Aussetzung der Restfreiheitsstrafen eingegangen werden kann, auf folgendes hin:

Die Vollzugsbehörde ist nicht nur nach § 2 StVollzG, sondern von Verfassungs wegen gehalten, die bedingte Entlassung des Gefangenen so vorzubereiten, dass dessen verfassungsrechtlich gewährleisteter Freiheitsanspruch (Art. 2 I GG) durch Richterentscheid (Art. 104 II GG) zeitgerecht realisiert werden darf. Sie darf ihm deshalb ohne zureichenden Grund nicht Vollzugslockerungen und offenen Vollzug versagen, deren Bewältigung ­wie hier- für eine Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe unabdingbar sind (vgl. BVerfG, NJW 1998, 2002; NStZ 2000, 109; Senat a.a.O.). Dabei ist zu beachten, dass die Voraussetzungen des § 57 I StGB nämlich wesentlich strenger sind als diejenigen für die Gewährungen von Lockerungen und offenem Vollzug. Letztere fordern gerade nicht die Erwartung, dass der Verurteilte längerfristig straffrei bleibt, worauf die Vollzugsbehörde in Kassel in der Vergangenheit in vergleichbaren Fällen rechtsirrig abgehoben hat, sondern dass er die Lockerungen bzw. den offenen Vollzug nicht zur Flucht oder zur Begehung von Straftaten missbraucht. Lockerungen und offener Vollzug dienen auch und gerade dem Einüben von Verhaltensmustern, die der Gefahr erneuter Straffälligkeit unter den Bedingungen des Lebens in Freiheit entgegen zu wirkenvermögen. Von daher regt der Senat nachdrücklich an, unverzüglich in die Prüfung der Gewährung von Vollzugslockerungen und der Überweisung des Gefangenen in den offenen Vollzug einzutreten, zumal auch von der Sachverständigen Dr. X bereits in ihrem schriftlichen Gutachten vom 23.9.2002 keine Bedenken gegen die kurzfristige Rücküberweisung des Gefangenen in den offenen Vollzug geäußert wurden und von dieser Einschätzung bei der mündlichen Erläuterung ihres Gutachtens (Anhörung vom 29.10.2002 vor der StVK Marburg) - auch unter Berücksichtigung der damals noch offenen Verfahren - keine Abstriche gemacht hat.



Ende der Entscheidung

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